Press 2020 (publisher.ch)

von Bettina Schulz, 14.12.2020


Der Zauber des Surrealen


Welch euphorischer Augenblick muss es gewesen sein, als es endlich gelang, einen Augenblick auf Papier und damit (fast) für die Ewigkeit zu bannen. Heute ist die Fotografie so selbstverständlich wie die Luft zum Atmen – tatsächlich bezaubern kann sie nur durch zweierlei: Entweder gelingt eine ungewöhnliche Inszenierung oder aber der Fotograf hat die Gabe, das Besondere im vermeintlich Alltäglichen zu entdecken. Und damit wären wir bei Dieter Klein, der für das Aufspüren des Ungewöhnlichen regelmässig auf Schatzsuche geht.


Oldtimer-Enthusiasten werden beim Durchblättern des faszinierenden Bands «Lost Wheels» sicherlich unter Schnappatmung leiden: Dort sind sie alle versammelt, Modelle, von denen man oft nur träumen kann. Sie stehen aber nicht in Museen oder Autohäusern, sind weder poliert noch liebevoll restauriert – sie ertragen geduldig ihren zunehmenden Rostfrass mitten in Wäldern, vor verlassenen Häusern oder einsam auf dem platten Land. Es sind Szenerien, die niemand für ein Shooting besser hätte arrangieren können. Man musste sie «nur» finden. Von dieser Leidenschaft, der akribischen Suche und einer unfassbar grossen Sammlung der «Lost Wheels» möchte man unbedingt mehr erfahren.


Mit Rosalie fing alles an

Dass die Fotografie in Sachen Berufswahl alternativlos war, wusste Dieter Klein recht schnell: «Eventuell wäre auch Musik in Frage gekommen, aber bei selbstkritischer Betrachtung hätte mein Klaviertalent wohl nicht ausgereicht». Und so begann er schon während seines Studiums der Freien Kunst in der Fotoklasse, sich ein Zubrot bei der Lokalpresse zu verdienen. «Eine gute Schule, bei der man das Handwerk von der Pike auf lernte. Schliesslich hatte man immer nur wenige Sekunden Zeit, um einen Handshake zwischen Bürgermeister und Sparkassendirektor festzuhalten. Das Bild musste schnell im Kasten sein», erzählt der Kreative. Bald entstanden auch eigene Reportagen, die in Zeitschriften erschienen – ob aus dem Schlachthof, dem Gefängnis oder aber von der Mülldeponie. Es war immer die Unterschiedlichkeit, die Dieter Klein reizte, und die Möglichkeit, an Orten zu sein, die man nur mit der Kamera erreicht. In den neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts nahm die Werbefotografie ihren Aufschwung und auch hier agierte der Fotograf erfolgreich. Doch die Reportage-Fotografie liess Klein niemals ganz los, zumal ihm immer Gelegenheiten zupass kamen, um seine Leidenschaft weiter voranzutreiben: «Ein Freund von mir gründete beispielsweise das Museum für Alltagskultur, das Objekte aus acht Jahrhunderten beherbergt. Hier konnte ich mir für Fotoserien fantastische Artefakte ausleihen, die ich vor zusammengesammelten, alten Hintergründen als Stillleben inszenierte.» 


Doch eines Tages erschien Rosalie in seinem Leben und Dieter Klein verliebte sich in sie: «Als wir auf einer Radtour im Urlaub in der Nähe von Cognac an einem verlassenen Gehöft vorbeikamen, sah ich aus dem Augenwinkel einen alten Lieferwagen der Baureihe ‹Rosalie› von Citroen aus dem Jahr 1935. Eingewachsen in einen Holunderbusch, ein Ast wuchs wie eine Art Wegfahrsperre durch das Lenkrad hindurch und Efeu schlängelte sich drum herum, aber ansonsten weder ausgeplündert, noch zerstört, stand das Auto einfach nur seit 50 Jahren dort.» Ein Foto, wie für ein Märchenbuch gemacht, dachte sich Dieter Klein und kam gleich am nächsten Tag an die Stelle zurück, um diese unwirkliche Szenerie festzuhalten. Es sollte der Anfang einer langen Reise werden. 


Next Stop: Schweden«

Wenn man einmal ein Thema für sich gefunden hat», so Dieter Klein, «entdeckt man immer mehr Motive.» Auf diese Weise wuchs die Lost-Wheels-Sammlung, sprach sich schnell im Freundeskreis herum und führte zu weiteren Tipps für die Jagd nach verlassenen Oldtimern. Besonders ergiebig war dabei eine zugespielte Zeichnung, die einen Schrottplatz mitten in einem Wald abbildete: Keine Frage – dort musste Dieter Klein hin. Nur mit groben GPS-Daten im Gepäck reiste er nach Schweden und stiess nach 1 500 Kilometern und längerer Suche auf sein persönliches Paradies. Wie in einem zwölfreihigen Autokino standen in einem Hain Gefährte aus den 40er- und 50er-Jahren – oft dreifach gestapelt! «Hierzu muss man wissen, dass nach dem Krieg eine unglaublich hohe Steuer auf den Import von Privatautos nach Norwegen erhoben wurde – aber nicht auf Einzelteile. Zwei Brüder nutzten diese Gesetzeslücke und errichteten direkt an der Grenze einen Schrottplatz, zerlegten Fahrzeuge, brachten die Einzelteile ins Nachbarland und setzten sie dort wieder zusammen. Die Überbleibsel konnte ich gerade noch rechtzeitig fotografieren – inzwischen wurden diese Autos vollkommen ausgeplündert und demoliert.» Bei gleich zwei Besuchen bannte Dieter Klein die «industriellen Waldbewohner» für die Ewigkeit: Sie erscheinen wie Fabelwesen und schmiegen sich fast schon selbstverständlich in eine Umgebung, in der sich die Natur ihren Platz zurückeroberte.


«Das Auge macht das Bild, nicht die Kamera» (Gisèle Freund)


Viele inoffizielle «Parkplätze» spürte Dieter Klein für seine Serie in Europa auf, ein wahres Eldorado offenbarte sich aber in den USA. Ist es doch hier – vor allen Dingen auf dem Land – viel üblicher, aufgegebene Fahrzeuge wie Andenken vor dem eigenen Anwesen einfach stehen zu lassen. Über einen Autoblog stiess der Fotograf 2014 zunächst auf eine Auktion in Oklahoma, bei der eine private Sammlung von Oldtimern aufgelöst wurde. Dieter Klein wurde die Möglichkeit angeboten, die Schmuckstücke einige Tage zuvor festzuhalten – diese Gelegenheit war der Startpunkt für eine vierwöchige Tour quer durch sieben Bundesstaaten mit insgesamt 8 000 Kilometern und vielen  «Schätzen» auf der Wegstrecke. Einige mögliche Plätze recherchierte Klein im Vorfeld, andere wiederum wurden ihm vor Ort verraten, sobald er von seinem Projekt erzählte. «Meine Leidenschaft waren dabei ja nie die Oldtimer an sich, sondern die Fotografie und schlichtweg Autos, die nicht fahren und damit gar nicht ihren Zweck erfüllen», erzählt Dieter Klein, der oft viele Stunden auf genau das richtige Licht wartet, um ein perfektes Bild festzuhalten. «Keine meiner Fotografien ist inhaltlich retuschiert – wenn da eine Cola-Dose im Rasen liegt, dann ist das eben so. Korrigiert werden von mir lediglich Tonwerte und Farbigkeit.» Vollkommen fasziniert von seinen Fundstücken begab er sich später nochmals für sechseinhalb Wochen und 12 500 Kilometer in die USA. Auf dieser Reise entstand unter anderem auch das Coverbild von  «Lost Wheels», ein pinkfarbener Dodge vor einem verlassenen Farmhaus, keine Strasse, keine Fahrspur, kein Weg weit und breit – ein absoluter Zufallsfund: «Solche Szenerien kann man sich gar nicht ausdenken. Ich machte den Besitzer ausfindig, der mir erzählte, dass das Auto seinem Vater gehörte. Zwei Tage vor dessen Tod 1977 wäre er damit noch gefahren und seither stünde es wie ein Memorial unbewegt auf dem nun zugewachsenen Grundstück.» Dieter Klein wartete geduldig sechs Stunden lang, bis der Sonnenuntergang diese grossartige Bühne mit rosa Wolken komplettierte, dann hatte er das perfekte Kunstwerk eingefangen. 


Bei zwei weiteren Reisen durch die Vereinigten Staaten realisierte Dieter Klein inzwischen 12 000 bis 14 000 Aufnahmen für diese Serie: «So genau kann ich das gar nicht sagen, ich habe sie nie gezählt.» Unterwegs war er dabei anfangs mit einer Hasselblad, später mit einer Mittelformatkamera von Phase One. «Damit entstehen Aufnahmen von 100 Megapixeln, was 300 MB für ein Bild bedeutet. Die Datenmenge braucht man zwar nicht unbedingt für eine Buchproduktion, aber die Dynamik und die Tonwerte sind einfach fantastisch», schwärmt Dieter Klein. 


Hinter jedem Bild steckt eine Geschichte

Schon anhand dieser wenigen Anekdoten lässt sich erahnen, was Dieter Klein antreibt: Ihn freut der Zufall, der ihm quasi aus dem Nichts Motive vor die Kamera spült, die eine Art natürlichen Surrealismus bereithalten. Und auch als Betrachter, ob Oldtimer-Fan oder nicht, verliert man sich schnell in dieser magischen Welt und lässt sich von dem vermeintlich konträren Zusammenspiel aus technischer Anmutung und unberührter Natur einfangen. Vielleicht ist es das Bewusstwerden der Vergänglichkeit, das bei gleichzeitiger Überdauerung anrührt. Vielleicht liegt die Faszination auch in dem unerklärlichen Hang, die Fahrzeuge nach einiger Zeit fast schon zu vermenschlichen und sie als Protagonisten anzusehen, die eine Geschichte erzählen möchten. In jedem Fall kann man sich dem Charme der Lost Wheels kaum entziehen und hofft auf weitere Fundstücke von Dieter Klein.

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The magic of the surreal

What a euphoric moment it must have been when a moment was finally captured on paper and thus (almost) for eternity. Today, photography is as natural as the air we breathe – in fact, it can only enchant us in two ways: Either an unusual staging succeeds or the photographer has the gift of discovering the special in the supposedly everyday. And that brings us to Dieter Klein, who regularly goes on treasure hunts to track down the unusual.

Classic car enthusiasts will surely suffer from gasping breath when leafing through the fascinating volume „Lost Wheels“: They are all gathered there, models that one can often only dream of. But they are not in museums or car dealerships, neither polished nor lovingly restored – they patiently endure their increasing rust in the middle of forests, in front of abandoned houses or lonely on the flat countryside. They are scenes that no one could have arranged better for a shoot. They „only“ had to be found. Of this passion, the meticulous search and an unbelievably large collection of the „Lost Wheels“ one would definitely like to learn more.

It all began with Rosalie

Dieter Klein knew quite quickly that photography was the only career choice: „Music might also have been an option, but on self-critical reflection, my piano talent probably wouldn’t have been enough“. And so, while still studying liberal arts in photography class, he began earning extra money working for the local press. „It was a good school where you learned the craft from scratch. After all, you only ever had a few seconds to capture a handshake between the mayor and the savings bank director. The picture had to be in the can quickly,“ says the creative artist. Soon, he was also producing his own reports, which appeared in magazines – whether from the slaughterhouse, the prison or the landfill site. It was always the diversity that appealed to Dieter Klein, and the opportunity to be in places that can only be reached with a camera. In the nineties of the last century, advertising photography took off and here too the photographer operated successfully. But reportage photography never quite let go of Klein, especially since opportunities always came his way to push his passion further: „For example, a friend of mine founded the Museum of Everyday Culture, which houses objects from eight centuries. Here I could borrow fantastic artifacts for photo series, which I staged as still lifes in front of gathered, old backgrounds.“

But one day Rosalie appeared in his life, and Dieter Klein fell in love with her: „As we passed an abandoned homestead on a bicycle tour on vacation near Cognac, I saw out of the corner of my eye an old 1935 Citroen ‚Rosalie‘ van. Overgrown in an elderberry bush, a branch growing through the steering wheel like some kind of immobilizer, and ivy snaking around it, but otherwise neither stripped nor vandalized, the car had just been there for 50 years.“ A photo made for a storybook, Dieter Klein thought, and returned to the spot the very next day to capture this surreal scene. It was to be the beginning of a long journey.

Next Stop: Sweden“

Once you’ve found a subject for yourself,“ says Dieter Klein, „you discover more and more motifs.“ In this way, the lost-wheels collection grew, quickly spread among friends, and led to more tips on hunting for abandoned classic cars. A drawing of a junkyard in the middle of a forest was particularly productive: „There’s no question about it – that’s where Dieter Klein had to go. With only rough GPS data in his luggage, he traveled to Sweden and, after 1,500 kilometers and a lengthy search, stumbled upon his personal paradise. Like a twelve-row drive-in movie theater, there was a grove of vehicles from the 1940s and 1950s – often stacked three high! „To this one must know that after the war an incredibly high tax was levied on the import of private cars to Norway – but not on individual parts. Two brothers took advantage of this loophole in the law and set up a scrap yard right on the border, dismantled vehicles, took the individual parts to the neighboring country and reassembled them there. I was able to photograph the remains just in time – in the meantime, these cars had been completely looted and demolished.“ On no less than two visits, Dieter Klein captured the „industrial forest dwellers“ for eternity: they appear like mythical creatures and nestle almost naturally in an environment where nature has reclaimed its place.

„The eye makes the picture, not the camera“ (Gisèle Freund).

Dieter Klein tracked down many unofficial „parking lots“ for his series in Europe, but a true El Dorado revealed itself in the USA. Here – especially in the countryside – it is much more common to simply leave abandoned vehicles like souvenirs in front of one’s own property. Through an autoblog, the photographer first came across an auction in Oklahoma in 2014 at which a private collection of classic cars was being liquidated. Dieter Klein was offered the opportunity to capture the gems a few days earlier – this opportunity was the starting point for a four-week tour across seven states with a total of 8,000 kilometers and many „treasures“ along the way. Klein researched some possible spots in advance, while others were revealed to him on location as soon as he told them about his project. „After all, my passion was never classic cars per se, but photography and simply cars that don’t drive and thus don’t serve their purpose at all,“ says Dieter Klein, who often waits many hours for just the right light to capture a perfect image. „None of my photographs are retouched in terms of content – if there’s a Coke can in the lawn, that’s just the way it is. The only things I correct are tonal values and color.“ Completely fascinated by his finds, he later went on another six-and-a-half-week, 12,500-kilometer trip to the United States. On this trip, among other things, the cover image of „Lost Wheels“ was created, a pink Dodge in front of an abandoned farmhouse, no road, no lane, no path far and wide – an absolute chance find: „You can’t make up scenery like that. I tracked down the owner, who told me that the car belonged to his father. Two days before his death in 1977, he would have driven it and since then it would have stood unmoved like a memorial on the now overgrown property.“ Dieter Klein waited patiently for six hours until the sunset completed this grand stage with pink clouds, then he had captured the perfect work of art.

In the meantime, during two further trips through the United States, Dieter Klein realized 12,000 to 14,000 photographs for this series: „I can’t say that exactly, I’ve never counted them.“ On the road, he initially used a Hasselblad, and later a medium format camera from Phase One. „This produces shots of 100 megapixels, which means 300 MB for one image. You don’t necessarily need that amount of data for a book production, but the dynamics and tonal values are simply fantastic,“ Dieter Klein enthuses.

There’s a story behind every picture

These few anecdotes alone give an idea of what drives Dieter Klein: He delights in the coincidence that washes up in front of his camera, virtually out of nowhere, motifs that hold a kind of natural surrealism in store. And even as a viewer, whether a classic car fan or not, one quickly loses oneself in this magical world and allows oneself to be captured by the supposedly contrary interplay of technical impression and untouched nature. Perhaps it is the awareness of transience that is touching while at the same time enduring. Perhaps the fascination also lies in the inexplicable tendency to almost humanize the vehicles after a while and to view them as protagonists who want to tell a story. In any case, one can hardly escape the charm of Lost Wheels and hopes for more finds by Dieter Klein.